Kapitel 25
Am folgenden Morgen betrat Sophie mit neu erwachter Energie ihren Salon. Bis dahin hatte Sophie den Raum einfach nur genutzt; nun wollte sie ihn zu ihrem Raum machen. Die vorherige Bewohnerin hatte den Raum mit einer Tapete dekoriert, auf der so dicke, fette Rosen eine Pergola hinaufrankten, dass es einem ganz schwindelig werden konnte. Dieser Anblick störte Sophie jedoch nicht weiter. Sie hatte vor allem Einwände gegen die Galionsfigur einer halb nackten Frau, die eine der Wände zierte und so gar nicht in das Zimmer passen wollte.
Als Erstes klingelte Sophie nach einem Lakaien. Dann begann sie, Bücher aus dem unteren Regal unter dem Fenster zu entfernen. Die Bücher stammten ursprünglich aus Patricks Bibliothek im Erdgeschoss und waren irgendwann hier oben untergebracht worden. Sophie zog die Bücher wahllos aus dem Regal heraus und schichtete sie zu wackeligen Stapeln auf den polierten Holzboden. Dabei stieß sie auf eine seltsame Mischung. Eine Anleitung und Geschichte zur Landwirtschaft, Gottes Ermahnungen gegen Hexerei und schließlich eine Reihe staubiger, gebundener Pamphlete, die sich mit dem Wunder der Dampfmaschine beschäftigten.
Als sich die Tür öffnete, sagte Sophie nur knapp »Guten Morgen«, ohne sich umzudrehen. »Bitte trag diese Bücher hinauf auf den Speicher, zusammen mit dieser ... dieser Frau.« Sie zeigte auf die Galionsfigur, die die Südwand zierte.
»Sophie! Du solltest vorsichtiger sein.« Patrick betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Du hebst doch keine schweren Bücher, oder?«
Sophie wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab, ohne an Simones Reaktion auf die braunen Streifen auf ihrem zitronenfarbenen Hauskleid zu denken. Sie blickte zu ihrem Mann auf und bemühte sich, den Sarkasmus aus ihrer Stimme zu verbannen. Schließlich hätte sie in den vergangenen Monaten ganze Bücherkisten herumtragen können, ohne dass er es bemerkt hätte.
Dann zeigte sie auf die schmalen Bände, die auf dem Boden lagen. »Sie sind nicht besonders schwer; bei den meisten scheint es sich nur um Pamphlete zu handeln.«
»Warum willst du die Galionsfigur auf den Speicher bringen lassen? Angeblich ist es Galatea, die Seenymphe.«
»Ich möchte nicht, dass in meinem Salon eine halb nackte Frau aus der Wand ragt.«
»Sie ist nicht halb nackt«, sagte Patrick und schlenderte zur Wand hinüber, um sich Galatea genauer anzusehen. »Schau, sie hat einen kleinen Stofffetzen über der linken Brust. Sehr geschmackvoll.«
Sophie warf zwei weitere staubige Pamphlete auf den Stapel zu ihren Füßen, ohne etwas zu erwidern.
»Na gut«, sagte er. »Ich lasse sie auf den Speicher bringen.« Er schwieg einen Moment. »Alex hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich dich nicht hätte alleine ausgehen lassen dürfen«, sagte Patrick steif. »Ich wünsche von nun an, dass du mir Bescheid gibst, wenn du die Kutsche benutzen möchtest. Ich werde dich dann begleiten.«
Sophies Mund verzog sich zu einem schmalen Strich. Es gab also eine Erklärung für das plötzliche Auftauchen ihres Mannes. Alex!
»Ich habe beschlossen, mich von nun an vom gesellschaftlichen Leben zurückzuziehen«, erwiderte sie. »Ich werde dich wohl nicht sehr oft bemühen müssen.« In diesem Moment fasste sie sogar den Entschluss, nie wieder das Haus zu verlassen.
Patrick starrte seine zierliche Frau verzweifelt an. Ihm fiel absolut nichts ein, was er zu ihr sagen könnte. Rede, hatte Alex von ihm verlangt. Über was? Offensichtlich hatte er wieder etwas Falsches gesagt, denn Sophies ganzer Körper war völlig starr geworden.
Er zögerte, verbeugte sich vor ihr und wandte sich zur Tür. Als er sie öffnete, stand er einem Lakaien gegenüber, der gerade anklopfen wollte. Patrick trat beiseite und blickte sich noch einmal um.
»Sophie, hättest du gerne eine neue Tapete?« Er fand, dass die Rosen aussahen wie pinkfarbene Pilze.
Sophie blickte hoch und ein Anflug eines Lächelns lag auf ihren Lippen. »Nein, mir gefällt das Muster ganz gut. Es ist sehr fröhlich. Ich habe jedoch vor, für dieses Zimmer neue Möbel zu kaufen. Es sei denn, du hast etwas dagegen.«
»Sollen wir heute Nachmittag einkaufen gehen?«
»Vielleicht später in der Woche.«
Aber Patrick wollte sofort etwas für sie tun. »Bist du sicher, dass du keine Ausfahrt in den Park unternehmen möchtest?«
»Ganz sicher, danke.«
»Möchtest du, dass ich Charlotte oder deiner Mutter eine Nachricht schicke und sie hierher einlade?«
»Nein danke, Patrick.« Sie wartete offensichtlich, dass er endlich ging.
Also verschwand er. Was konnte er sonst tun? Er ging nach unten und grübelte darüber nach, was schwangere Frauen glücklich machte. Er schickte einen Lakaien nach oben, der Galatea in ihr neues Zuhause auf dem Speicher brachte. Dann schickte er einen zweiten Lakaien los, drei große Rosensträuße zu kaufen, und zwar die »fette, schlappe Sorte«. Wenn Rosen sie fröhlich machten, dann würde er das ganze Haus damit füllen.
Sophie hatte schließlich sämtliche Bücherregale so geordnet, wie sie es wollte. Soweit es möglich war, benutzte sie eine alphabetische Anordnung. Und so standen nun neben ihrer deutschen Grammatik die französischen, holländischen, italienischen, portugiesischen und walisischen Lehrbücher. Zwischen der portugiesischen und der walisischen Grammatik ließ sie ein wenig Platz für die türkische Grammatik frei. Sobald ich die Gelegenheit habe, kaufe ich mir eine neue türkische Grammatik, versprach sich Sophie.
Beim Mittagessen fragte Patrick Sophie erneut, ob er sie am Nachmittag nicht begleiten solle, und wieder verneinte sie. Sie war müde und spürte einen stechenden Schmerz im Rücken.
»Ich bin Monsieur Foucault und seinem Begleiter Bayrak Mustafa begegnet, als sie das Tintenfass brachten«, unterbrach Sophie plötzlich die angespannte Stille beim Mittagstisch. »Er gefällt mir gar nicht, Patrick.«
Patrick blickte überrascht von seinem Pfirsich auf, den er gerade schälte. Er hatte gerade mit offenen Augen davon geträumt, dass Sophie ihn so anlächelte wie früher.
»Monsieur Foucault? Nein, er ist kein sehr angenehmer Mensch«, stimmte er ihr zu.
»Es ist keine Frage von angenehm oder nicht«, erwiderte Sophie. Sie war wirklich todmüde. »Ich verstehe etwas Türkisch und sein Begleiter sprach kein richtiges Türkisch. Monsieur Foucault schon, aber zwei Mal antwortete Mr Mustafa ihm in einem seltsamen Kauderwelsch.«
»Kauderwelsch?« All die schlechten Ahnungen, die Patrick bei der ersten Begegnung mit Monsieur Foucault gehegt hatte, kehrten nun mit aller Macht zurück. Daher reagierte er auch nicht auf das, was Sophie ihm gerade über ihre Türkischkenntnisse verraten hatte. »Ich wusste, dass an diesem Burschen etwas faul ist«, sagte Patrick. »Verdammt, ich hätte von Anfang an mit Lord Breksby darüber reden sollen!«
Sophie wusste nicht, worauf er abzielte, aber sie war auch zu müde, um sich Gedanken darüber zu machen. Nach dem Mittagessen stieg sie langsam die Treppe hinauf und bemerkte dabei gar nicht, dass Patrick am Fuß der Treppe stand und ihr besorgt nachsah.
Sie hielt einen Mittagsschlaf, aber als es Zeit für das Abendessen war, fühlte sie sich noch erschlagenen Schließlich ließ sie sich ein Tablett aufs Zimmer bringen. Es war ermüdend genug, aus dem Bett zu klettern, auch ohne Patrick gegenüber zu sitzen. Patrick aß alleine (es gab schon wieder Rebhuhn - er musste wirklich einmal mit Floret reden) und fragte sich, ob Sophie ihn mied oder ob sie sich wirklich unpässlich fühlte.
Den ganzen Abend über kämpfte er gegen den Impuls an, nach oben zu gehen und nach ihr zu sehen. Als er es schließlich tat, lag sie im Bett und schlief tief und fest. Patrick betrachtete sie einen Moment lang. Sophie sah völlig erschöpft aus. Ihr Gesicht war bleich und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten.
Patrick legte sanft eine Hand auf ihren Bauch, aber Sophie rührte sich nicht.
»Hallo«, flüsterte er. Dann riss er seine Hand zurück. So verlegen hatte er sich seit langem nicht mehr gefühlt. Er verließ das Haus und seine Füße trugen ihn durch die inzwischen vertrauten Straßen.
Am nächsten Morgen fühlte sich Sophie immer noch nicht besser, im Gegenteil. Das matte Gefühl hatte sich in ihrem ganzen Körper ausgebreitet. Es gelang ihr aufzustehen, aber sie kam, nur bis zu ihrem Sessel. Vielleicht würde sie sich die nächsten zwei Monate so fühlen. Bei der bloßen Vorstellung bekam sie Kopfschmerzen.
Langsam, ganz langsam setzte sich ein ängstlicher Verdacht in ihr fest. Sie fühlte sich apathisch, ihr war heiß und sie hatte Kopfschmerzen. Aber warum regte sich das Baby nicht? Ängstlich legte sie die Hände auf ihren Bauch, aber sie konnte keine Bewegung spüren.
Eine Minute später schreckte Sophie aus ihrem benommenen Zustand hoch und zerrte an dem Klingelzug. Als Simone erschien, sagte sie: »Schicke bitte eine Nachricht an Dr. Lambeth. Ich muss ihn sofort sehen. Der Bote kann warten und ihn in unserer Kutsche zurückbringen.«
Simone machte einen Knicks. Sophie hörte, wie sie den Flur entlang auf die Treppe zulief Dann setzte sie sich hin, legte die Hand auf ihren Bauch und wartete sehnsüchtig auf eine Regung, ein leises Strampeln, irgendetwas ... Nichts. Ihr Bauch wölbte sich träge und schwer vor ihr auf. Das Baby schläft, redete Sophie sich ein. Ich werde krank, und deshalb ist es müde.
Als Dr. Lambeth das Zimmer betrat, blickte sie ihn mit verängstigten Augen an.
»Es tut mir Leid, dass ich darauf bestanden habe, Sie sofort zu sehen, Doktor.«
»Unsinn«, sagte der Doktor nur barsch und kam auf sie zu. Er beugte sich vor und legte seine breite, weiße, saubere Hand auf ihren Bauch. Nach einem kurzen Moment richtete er sich auf.
»Ich muss Sie bitten, Ihr Nachthemd aufzuknöpfen, Euer Gnaden«, sagte er sanft.
Simone stand bereits hinter dem Arzt und er trat diskret ans Fenster und blickte hinaus, während Simone Sophie beim Aufknöpfen ihres Nachthemdes half und es nach vorne zog, damit ihr Bauch freilag.
Sophie betrachtete den roten Haarschopf des Arztes, als er sich über ihren Körper beugte.
Als seine Hände sie immer wieder berührten und abtasteten, ohne dass der Doktor etwas sagte, erkannte Sophie tief in ihrem Herzen die niederschmetternde Wahrheit.
»Warum ziehen Sie sich nicht wieder an, Euer Gnaden?« Lambeth hatte die Erfahrung gemacht, dass die Patienten viel ruhiger reagierten, wenn sie vollständig angezogen waren.
Sophie sah den Doktor stumm an und nickte Simone zu. Dr. Lambeth verließ das Zimmer und wartete auf dem Flur. Er starrte die Wand an und dachte an das strenge Gesicht von Foakes' Anwalt, als der ihn nach seinen Referenzen fragte. Dr. Lambeth war überzeugt, dass der Ehemann sich ziemlich über den Tod des Kindes aufregen würde. Er seufzte. Manchmal fragte er sich, warum er so viel Zeit mit adligen Patienten verbrachte. Wegen des Geldes, rief er sich in Erinnerung.
Simone öffnete die Tür und rief ihn zurück in das Schlafzimmer der Herzogin. Als Dr. Lambeth dem Blick seiner Patientin begegnete, sah er keine Angst. Diese Regung hatte einer tiefen Verzweiflung Platz gemacht.
»Es tut mir sehr Leid«, sagte er sanft. »Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass das Kind nicht überlebt hat. In so einem Fall bleibt mir nur zu sagen, dass es Gottes Wille ist.«
»Es ist tot«, sagte sie teilnahmslos.
»Wir werden sehen«, erwiderte Dr. Lambeth. »Ich äußere ungern endgültige Prognosen, aber ich kann keinerlei Lebenszeichen feststellen. Manchmal überleben Kinder die Schwangerschaft nicht ... niemand kann sagen, warum. Spüren Sie hier irgendwelche Schmerzen?« Sanft berührte er Sophies Bauch.
»Nein.«
»Sollte das Baby nicht mehr am Leben sein, werden heute oder morgen die Wehen einsetzen.«
»Die Wehen?«
»Das Kind muss so oder so auf die Welt kommen, Euer Gnaden.«
Sophie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Möchten Sie, dass ich es Ihrem Mann mitteile?«
Sophie blickte ihn stumm an und schüttelte den Kopf
Dr. Lambeth blieb beharrlich. »Ich werde klingeln und nachsehen, ob der Herzog im Hause ist, ja?«
»Nein!« Sophies Gesicht war nun leichenblass. »Ich muss nachdenken. Ich ...«
»Sind Sie sicher, dass ich Ihren Mann nicht informieren soll?« Dr. Lambeth wandte sich an Simone.
»Nein«, sagte Sophie unglücklich. »Ich sage es ihm später selber. Bitte, Dr. Lambeth.«
Der Doktor nickte und drehte sich zu Simone um. Leise gab er ihr einige Instruktionen. Dann wandte er sich wieder an Sophie.
»Ich habe Ihrer Zofe gesagt, welche Symptome zu erwarten sind«, sagte er und nahm ihr Handgelenk hoch, um ihren Puls zu messen. »Bitte, schicken Sie mir sofort einen Boten, sobald Sie erste Anzeichen der Wehen oder der Geburt feststellen. Ich schlage vor, Sie legen sich ins Bett. Ich werde morgen früh gleich zu Ihnen kommen.«
Das Wort »Geburt« kam Sophie seltsam vor. Es gehörte zu Babys, die am Leben waren.
»Das kann ich nicht«, erwiderte Sophie. Sie sollte sich ins Bett legen und warten? Was für ein schrecklicher Gedanke. Ihre angeborene Höflichkeit und die Erziehung ihrer Mutter trieben sie aus ihrem Sessel.
»Morgen, sagten Sie?«, fragte sie, so als würden sie über eine Gartenparty reden.
Dr. Lambeth nickte und seine Augen erkannten Sophies schlafwandlerischen Zustand. Sie hat einen Schock, dachte en Nun, das ist wohl besser so.
»Halten Sie sie warm«, sagte er zu Simone.
Die Zofe nickte und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Dr. Lambeth verbeugte sich höflich. »Ich werde morgen wieder kommen, wenn ich darf.«
»Ich werde Sie nach unten begleiten«, erwiderte Sophie.
Dr. Lambeth sagte nichts. Es war sicherlich nicht normal, dass seine adligen Patienten ihn zur Tür begleiteten, aber er bezweifelte, dass diese Patientin klar dachte.
Er versuchte es noch einmal. »Madam, sind Sie ganz sicher, dass ich nicht mit Ihrem Mann sprechen soll?«
»Ganz sicher, danke«, erwiderte sie mit teilnahmsloser Höflichkeit.
Gemeinsam gingen sie die breiten Stufen der Marmortreppe hinunter; Dr. Lambeth, eine seltsame, würdevolle Gestalt mit roten Haaren und müden Augen, und die wunderschöne Sophie. Ihr Gesicht war längst nicht mehr kreidebleich; auf ihren Wangen waren kreisrunde, rote Flecken erschienen, die Dr. Lambeth große Sorge bereitet hätten, hätte er sie bemerkt.
Aber er war in Gedanken bereits bei dem, was an diesem Tag noch vor ihm lag. Er würde als Nächstes die Viscountess aufsuchen - eine Mutter von vier Kindern, die an diesem Tag ihr Fünftes erwartete. Die Geburt würde leicht verlaufen, da sie mit den ersten vier Mädchen keine Schwierigkeiten gehabt hatte, aber sollte das Kind wieder ein Mädchen sein, musste er wahrscheinlich eine hysterische Mutter bändigen, von dem Viscount ganz zu schweigen. Den Viscount hatte bereits die Geburt seiner vierten Tochter schwer mitgenommen. Bei einer Fünften …
Also verbeugte sich Dr. Lambeth hastig und versprach beim Abschied, am nächsten Morgen wiederzukommen. Er sprang in seine Kutsche und gab dem Fahrer Anweisungen, ihn zum Haus des Viscounts zu bringen. Als die Pferde anzogen, legte er sich bereits tröstende Worte zurecht.